Über das Mutigste, was ein Jugendlicher heute tun kann – Radikale Schulkritik

Es stimmt mich traurig, wenn überall, wo wir vorbeikommen, Schüler weniger Hausaufgaben wollen, Lehrer sich kleinere Klassen wünschen, Eltern mehr Geld für Bildung fordern und Politiker über G8 oder G9 streiten. Es ist nicht so, dass ich ihnen ihre Wünsche absprechen will, aber ich glaube einfach nicht mehr, dass diese Dinge, die wirklich wichtigen sind. Ich glaube, dass die wirklich wichtigen Fragen nicht jene sind, über die heute gestritten wird, sondern jene, an die wir nicht einmal denken, weil wir uns so an sie gewöhnt haben, dass wir sie als selbstverständlich voraussetzten.

Natürlich ist es seltsam,
- dass die Schule den Stoff in 45 Minuten aufteilt. Dass Schüler sich 45 Minuten für den Aufbau von Zellen begeistern sollen und dann, wenn sie vielleicht gerade angefangen haben sich dafür zu begeistern und sie jetzt freiwillig fünf Stunden weiterforschen würden, sie sich plötzlich für die Weimarer Republik interessieren sollen.
- dass Schüler ständig still sitzen sollen, was dem Bedürfnis eines Kindes völlig widerspricht, den Rücken und die Haltung schädigt, uneffektiv fürs Lernen ist und einen nicht verwundern lässt, wenn es immer mehr hyperaktive und übergewichtige Kinder gibt.
- dass der Schulunterricht fast ausschließlich drinnen stattfindet, als ob es nicht auch Möglichkeiten gäbe draußen oder bei Ausflügen zu lernen.
- dass die meisten Schulgebäude so trostlos aussehen, statt die Schulen wie Lebensräume zu gestalten. Schließlich verbringen die Schüler den Großteil ihres Tages darin. Überhaupt könnte man solche Räumlichkeiten viel mehr zu einem Zentrum sprudelnder gesellschaftlicher Aktivitäten machen, die auch außerhalb der Schulzeiten genutzt werden.
- dass Zusammenarbeit fast überhaupt nicht gefördert wird, es fast immer darum geht, die Dinge alleine zu machen und dass Zusammenarbeit bei den Klausuren sogar verboten ist, damit die Kinder ja nicht die Erfahrung machen, dass man durch Kooperation, die Leistung verbessern kann.
- dass die Kinder im Alter von zehn Jahren, gemäß ihrer Leistung in zwei oder drei Einrichtungen aufgeteilt und gesondert weiter unterrichtet werden.
- dass die Kinder nach Alter sortiert werden, eine Aufteilung, die sich vor oder nach der Schule nirgends so finden lässt.
- dass immer noch zum größten Teil Frontalunterricht stattfindet und es größtenteils um Wissensvermittlung geht. Wissen, von dem man nach der Schule vieles nie wieder braucht.
- dass die Tests direkt geschrieben werden, nachdem ein Thema behandelt wurde, wo es doch viel sinnvoller wäre, sie ein halbes Jahr später zu schreiben, wenn man weiß, was davon noch hängengeblieben ist.
- dass viele Schüler fünf Jahre lang Französischunterricht hatten und danach oft kaum einen Satz Französisch sprechen oder dass sie zwei Jahre nach dem Abitur das Meiste davon wieder vergessen haben.
- dass alle so tun als ob es ein allgemeines, objektives Verfahren gäbe, mit dem man die Tätigkeiten eines Menschen in einen Maßstab von unterschiedlich vielen Zahlen einordnen könnte. Ich habe noch keinen Menschen getroffen, der tatsächlich behauptet, dass es ein solches Verfahren geben würde.
Bei den einfachsten Dingen, wie dem Weitwurf eines Balles, mag es vielleicht noch möglich sein, einen vergleichbaren Maßstab zu entwickeln, doch spätestens bei dem Schreiben eines Aufsatzes oder dem Malen eines Bildes ist dies völlig unmöglich. Ganz zu schweigen von den komplexen Tätigkeiten, die wir tatsächlich im Leben ausüben.
Jeder weiß, dass die Noten von einer Vielzahl von Umständen abhängen, die nichts mit der Leistung zu tun haben. Lehrer, Klasse, Sitznachbar, Bundesland, Elternhaus sind nur einige wenige. Das gesamte Benotungsverfahren beruht also auf einer Annahme, von der jeder weiß, dass sie nicht stimmt.
<strong>Aber dies alles,  ist nicht Thema dieses Textes!</strong>
Ich möchte lieber fragen, was überhaupt der Sinn hinter einem allgemeinbildenden Abschluss ist. Entsteht der größte Teil des Wissens in einer Gesellschaft nicht durch den Austausch zwischen Menschen. Für einen möglichst hohen Wissensstandart braucht man Menschen, mit unterschiedlichstem, vielfältigem Wissen und eine möglichst lebendige, interaktive Kommunikation. Ich erkenne einfach keinen Sinn darin, wenn alle das Gleiche wissen.
Ich möchte fragen, ob man durch das Üben an ausgedachten Problemen überhaupt lernt, reale Probleme zu lösen. Wieso sind alle Aufgaben in der Schule nur Übungen, nur Spiele und keine Aufgaben, die einen wirklichen Sinn haben? Wieso können viele Schüler nach der Schule nicht einmal die Grundfertigkeiten, die man zum täglichen Überleben braucht, wie z.B. Wäsche waschen, kochen oder putzen? Wieso müssen die Schüler ihre Schule nicht selber putzen? Was ist das für eine komische Methode, dass man in der Schule mit einer bedrückenden Ernsthaftigkeit an eigentlichen Spiele übt, statt spielerisch Ernstfälle anzugehen? Wieso stehen Arbeit und schulische Ausbildung in Konkurrenz zueinander, wo doch Lernen viele Jahrhunderte lang im Einklang mit produktiver Tätigkeit stand?

Ich möchte fragen, wer entscheiden darf, was gelernt werden soll. Sollen die Kinder lernen, was die Älteren für wichtig halten, damit sie an der gleichen Welt weiterbauen oder ist es möglich, dass wir die Erfahrungen der Älteren nur nutzen, um die Wünsche der nächsten Generation zu verwirklichen? Und verpassen die Kinder nicht das wichtigste, was man lernen kann, wenn Inhalt und Methode immer vorgeschrieben ist?  Selbstorganisation, Selbstbestimmtheit, Eigeninitiative: Den Umgang mit der menschlichen Freiheit.

Ich möchte fragen, ob es gut ist, dass der Staat die Bildung organisiert, finanziert und kontrolliert. Alleine die Tatsache, dass es einen staatlich anerkannten Bildungsweg und staatlich anerkannte Abschlüsse gibt, teilt die gesamte Welt des Lernens in zwei Bereiche. Es gibt bestimmte Methoden, Orte, Lehrer, Zeiten und Inhalte, die der Staat anerkennt. Wenn  ich nur in einem dieser Dinge abweiche, ist das Gelernte nichts wert. Ich kann das gleiche Wissen und die gleichen Fähigkeiten haben, doch ohne das staatliche Abitur darf ich nicht studieren.  Es geht also darum ein bestimmtes Verfahren durchlaufen zu haben und nicht darum ein bestimmtes Können zu haben. So werden wir geschult Mittel und Ziel zu verwechseln. Wir verwechseln Schule mit Bildung. Wir glauben, dass mehr Schule zu mehr Bildung führt, dass 13 Jahre Schule mehr wert sind als 10 Jahre und wenn wir das erst akzeptiert haben, dann glauben wir auch, dass mehr Geld zu mehr Bildung führen könnte. Ich glaube, dass schon viel zu viel Geld für eine Schule ausgegeben wird, die nicht bildet, sondern die Grundlagen von Bildung (Neugier, Selbstbestimmung, Begeisterung) eher zerstört.
Es gäbe auch Möglichkeiten, dass der Staat die Bildungsmöglichkeiten der Menschen unterstützt ohne sie zu kontrollieren. Eine Möglichkeit wäre die Einführung von Bildungsgutscheinen: Jeder Mensch bekommt zu seiner Geburt oder monatlich vom Staat Gutscheine ( Z.B. im Wert dessen, was der Staat heute für die Bildung eines Menschen ausgibt, also ca. 90.000 Euro, evtl. noch gestaffelt nach Einkommen der Eltern und Zuschlägen bei Behinderungen) und jeder kann dann selber entscheiden, ob er damit eine Schule besucht, Bücher kauft oder nach Spanien fährt um Spanisch zu lernen.

Ich möchte nicht nur kritisieren, dass Noten mehr oder weniger willkürlich sind sondern fragen, wer überhaupt das Recht hat Maßstäbe fest zu legen. Wer entscheidet, was Rechtschreibung ist und was korrekte Grammatik und korrekte Ausdrucksweise ist? Wieso werden diese Fächer gemessen und wieso soll überhaupt die Leistung gemessen werden und gibt es nicht viele andere Dinge, die auch wichtig sind?
Ich möchte fragen, wie es sein kann, dass eine solche absurde Schule überhaupt noch existiert. Ich glaube nicht, dass es in der Schule vor allem um Wissensvermittlung geht. Wenn es in der Schule, nur darum ginge Wissen in die Köpfe der Kinder zu stopfen, dann wäre sie längst abgeschafft.

Es ist schon ein wirklich seltsames, beinahe groteskes Verfahren, dieses Schulsystem:
Wir verbringen 9-13 Jahre an einem Ort, still sein müssen, wenn wir laut sein wollen, sitzen müssen, wenn wir aufstehen wollen, gehorchen müssen, wenn wir ausbrechen wollen, übermüdet unseren Rücken schädigen und unsere Neugier zerstören lassen, um in der Gesellschaft mehr wert zu sein und bessere Rechte zu haben. Und jetzt wird es wirklich spannend. Steht das Faktum, dass Menschen mit höherer Schulbildung mehr wert sind, nicht im totalen Gegensatz zu den öffentlich anerkannten Werten?
Überall haben Menschen mit höherem Bildungsabschluss mehr Rechte, verdienen mehr und dürfen bestimmte, den Anderen vorenthaltene Berufe ausüben. Wir werden nach Maßstäben, die wir uns nicht ausgesucht haben und mit Methoden bewertet, die ähnlich willkürlich sind und wenig über unsere tatsächlichen Fähigkeiten aussagen, wie die Abstammung von einem Adelsgeschlecht, um dann mit dieser Bewertung in die moderne Ständeordnung einsortiert zu werden.
Es ist also nicht der Glaube an die Demokratie und damit an die Gleichberechtigung der Menschen, der, wie so oft behauptet, den höchsten Wert in unserer westlichen Welt darstellt! Nein, es ist der (Aber-) Glaube an die staatliche Bildungsmaschinerie, die, wie zu Feudalzeiten, die Menschen in unterschiedliche Stände einsortiert. Der Glaube daran, dass einige Menschen aufgrund bestimmter, willkürlicher Merkmale mehr wert seien und mehr Rechte haben sollten, ließ sich nicht so schnell mit der Abschaffung des Adels verbannen. Wir huldigen diesem Glaube auch heute noch, wenn auch das Ritual der Schulbildung, dies in effektiverer und subtilerer Weise tut.
Das ist der wirkliche Grund, warum Eltern ihre Kinder zur Schule schicken und Jugendliche weiterhin zur Schule gehen. Wir lernen die Dinge in der Schule nicht, weil wir sie brauchen und die Schule sie so gut vermittelt, sondern, weil wir nach 13 Jahren still sitzten und Dinge tun, die andere vorgeben, ein modernes Ritual des Erwachsenwerdens, eine “Reifeprüfung” bestanden haben, die uns einen höheren gesellschaftlichen Wert gibt.
Dass die Reaktionen auf die bewusste Entscheidung gegen das Abitur besonders heftig sind, das hat einen guten Grund. Denn die Ablehnung der staatlichen Abschlüsse ist eine Ablehnung, ja eine Auflehnung, gegen die Grundwerte unserer Gesellschaft.  Man stelle sich nur einmal vor, was passieren würde, wenn immer mehr Jugendliche sich zu diesem Schritt entschließen würden. Die gesamte Bildungsmaschinerie, würde wie ein Kartenhaus zusammenfallen, weil die einzige Belohnung, die es verspricht, nichts mehr wert wäre.
Die staatlichen Abschlüsse abzulehnen und einen eigenen Abschluss zu schaffen, ist wohl das Schwierigste und Stärkste, was ein Jugendlicher heute machen kann, weil der damit dem gesamten Wertemaßstab der Gesellschaft widerspricht.

Schließlich möchte ich fragen, warum es überhaupt eine Schule braucht.
Genauso fest, wie der Glaube an die Objektivität von Noten, hält sich der Glaube an die Notwendigkeit von Schule und Erziehung, trotz aller widersprechenden Tatsachen.
Überall meinen Lehrer und Erzieher das Selbe zu tun, wie Eltern seit tausenden von Jahren, dabei ist ihre Tätigkeit etwas völlig anderes.
Die Vorstellung vom Menschen als erziehungsbedürftiges Wesen ist eine völlig neue, die erst mit der Neuzeit entstanden ist. Wir haben damals die Erziehung abgegeben, an professionelle Erzieher und ein Bildungssystem und inzwischen haben wir uns so daran gewöhnt, dass der Mensch abhängig ist von den moderen Institutionen wie Schule , dass wir nicht mehr daran glauben, dass die Menschen in der Lage sind sich eigenständig zu bilden.  Und mit eigenständig meine ich nicht alleine, sondern ohne ein professionelles Expertentum. Ich meine den Unterschied zwischen dem Hineinwachsen in eine Gesellschaft und dem Erzogenwerden für eine Gesellschaft. Zwischen einem künstlich geschaffenen Zwang und dem Bestehen natürlicher Notwendigkeiten. Darum geht es mir, nicht um antiautoritäre Erziehung.
- Wir brauchen heute die Schule, weil ein natürliches Hinwachsen in die Gesellschft nicht mehr möglich ist. Weil es keine bildungsreiche Umwelt mehr gibt, keine Eltern oder Großeltern, die Zeit haben, keine kinderfreundlichen Berufe.
- Wir brauchen die Schule, die einen Raum voller künstlicher Zwänge schafft, weil es in unserer hochspezialisierten, technischen, arbeitsteiligen Gesellschaft keine natürlichen Notwendigkeiten mehr gibt.
So wie Prostitution Ersatz ist, in einer gehemmten Gesellschaft, so ist auch die Schule Ersatz in einer Umwelt, in der Kinder ihre Bildung nicht durch das Hineinwachsen in eine Gesellschaft erfahren. Ja, es braucht die Schule, für die Kompensation der, von den Kindern erlittenen, Umweltschäden. Und ja, es braucht professionelle Erziehung, um in der heutigen Umwelt leben zu können.
Die Frage ist, ob wir in einer Welt leben wollen, die der professionellen Erziehung bedarf.
Können wir nicht eine Umwelt schaffen, in der Kinder bei unseren täglichen Aufgaben dabei sein können? Können wir nicht ein Angebot schaffen, von Möglichkeiten und Räumen, des Forschens und Entdeckens, Räume, die das Zentrum menschlichen Lebens und Austausches sind, an denen Kinder und Großeltern gemeinsam Ideen für die Zukunft entwicklen und umsetzten. Wir brauchen ein Netzwerk von Lehrern und Mentoren, die man sich selber wählen kann und die gleichzeitig ihren Beruf ausüben. Wir brachen ein Netzwerk, wo man Mitstreiter findet, die der gleichen Frage nachgehen. Können wir Möglichkeiten schaffen, die nur ein Angebot, nur eine Unterstützung sind, die nicht manipulativ sind und die Eigenverantwortung und Selbstständigkeit bei den Menschen lassen? Wie müsste eine Umwelt aussehen, in der Kinder und Jugendliche ihre Bildung erfahren als Nebenprodukt von produktiver Tätigkeit? Uns zwar in einer Welt mit Computer, Internet und Arbeitsteilung.
Was mich ängstig ist die Phantasielosigkeit, die keine andere Möglichkeit sieht, als die Wahl zwischen Pest und Cholera: Die aktuelle Welt weiter führen oder eine Rückkehr ins Mittelalter. Ich glaube fest daran, dass es eine Möglichkeit geben muss, die wirklichen Erfindungen und Errungenschaften zu nutzen, ohne ein komplexes institutionelles System, dass die Menschen entmündigt. Dass die Menschen autonom und subsistent leben können, ohne die Mühen, der vorherigen Jahrhunderte. Dass echte, vielfältige Bildung möglich ist, ohne ein professionelles Schulwesen, dass mir die Verantwortung abnimmt, mich eigenständig und selbstbestimmt zu bilden.

-von Emil

PS: Über viele der Dinge hätte ich wohl viele, viele Seiten schreiben können und auch müssen, um sie wirklich dar zu stellen. Viele Dinge habe ich auch überspitzer und einseitiger dargestellt, als ich das tatsächlich sehe. Es ging mir eher darum, solche Fragen überhaupt  mal in den Raum zu stellen und denkbar zu machen.

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